Demokratie nicht mehr erwünscht ? - Der Zustand der Zivilgesellschaft in Russland
Notizen nach der Veranstaltung von B. Hilf
Johannes Voswinkel (Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung Russland):
Das Gesamtbild der russischen Politik sei geprägt von Nationalismus, Staatsreligion, Populismus, Korruption, Klientelwirtschaft und einer großen Portion Zynismus. Regiert werde halbautoritär und „flexibel“ : unterdrückt würden missliebige Tendenzen hier und dort, willkürlich und daher unvorhersehbar, was die Bevölkerung in Ungewissheit und Ruhe halten soll. Der Vertrag zwischen ihr und den Mächtigen – so es ihn gibt – laute : „Ihr lebt gut, besser als jemals zuvor, dafür sorgen wir – also lasst uns machen.“ Die Rückführung der Krim habe den Leuten Selbstbewusstsein zurückgegeben. Das „Durch-Regieren“ wird gestützt durch einen weiteren Ausbau der Macht-Vertikale, durch Kaderpolitik und junge loyale, technokratische Erfüller – auch in den Gouvernements (im Staatsapparat oder im Sicherheitsdienst zu arbeiten, gelte als attraktives Berufsziel). Die Medien würden beherrscht von den staatlich kontrollierten Kanälen. Eine stringente Ideologie gebe es nicht, es handele sich eher um einen nur rudimentär vorhandenen Baukasten, aus dem man sich von Fall zu Fall je nach Bedarf bediene. Seit den Jahren 1999/ 2000 gelte Russland als krank, man habe ihm damals einen Gips angelegt – und ihn nicht wieder abgenommen.
Das Ziel ist der Machterhalt, Putin solle bei der Präsidentenwahl 2018 als alternativlos erscheinen. Kurze Interventionen wie die zuletzt von Navalnyj würden als „Frischzellenkur“ strategisch zugelassen, seien aber keinesfalls Anzeichen von Tauwetter, im Gegenteil: es werde gerade eher noch um Grade kälter. In der Außenpolitik würden die USA weiterhin als Counterpart wahrgenommen, und dies als ein Mittel der Innenpolitik. Die EU zu schwächen sei als Ziel erkennbar, um dann jeweils bilaterale Beziehungen etablieren zu können. Der Vektor nach Asien sei keine Alternative für die russisch-europäischen Beziehungen.
In der Wirtschaft sei die Talsohle durchschritten, der Wohlstand sei beträchtlich, aber die Wirtschaft sei nicht reformiert – denn das wäre gleichzeitig eine Gesellschaftsreform. Bei der Frage nach den Auswirkungen der Sanktionen müsse man zugeben, dass der Armutsanteil in der Bevölkerung steige, die Landwirtschaft aber sei dabei, wiederbelebt zu werden. Problemzonen seien die Rinderzucht und in der Industrie der Pharma-zweig. Grundsätzlich seien die Sanktionen wichtig, erwiesen sich aber als Sackgasse.
Insgesamt seien die Krisenmerkmale aber nicht zu übersehen: in der Beziehung der Bürger zum eigenen Staat, im „Geschichtsbrei“ in den Köpfen, der immer wieder neu an- und umgerührt werde . . . .